In vielen Unternehmen im Mittelstand gibt es Schwelbrände innerhalb der Produkt- und Multichannel-Kommunikation. Die Erklärungen der Unternehmen klingen wie Entschuldigungen, sind aber nachvollziehbar und der eigenen Evolution geschuldet. Und die nächsten Evolutionssprünge sind im vollen Gang.
Freundlich begrüßt mich die neu gegründete Digital-Delegation des Unternehmens, die mich als PIM-Berater eingeladen hat. Ich befinde mich in einem erfolgreichen mittelständischen Unternehmen.
„Uns geht es sehr gut“ wird mir bestätigt, als ich nach dem werten Befinden frage. Ich werde durch das Unternehmen geführt, die Räumlichkeiten werden gezeigt, Menschen werden mir auf den Fluren vorgestellt und man merkt direkt: Das hier ist eine große Familie. Stolz wird mir von den Produkten und Innovationen berichtet, die diese Firma seit ihrer Gründung vor knapp 85 Jahren auf den Markt gebracht hat. Viele Innovationen sind aus besonderen Situationen heraus entstanden. Zum Beispiel, als Bedürfnisse und Märkte sich änderten und die Unternehmung sich innerhalb der langen Firmengeschichte mehrmals neu aufstellen musste.
Veränderung steht erneut an. Man merkt hier sehr deutlich den Willen, sich neu aufzustellen. Was gut ist, denn zusammen über die Dinge vorurteilslos und ohne Scham zu sprechen, ist der erste Schritt. Den Besprechungsraum zusammen erreicht, kommen wir vom anfänglichen Smalltalk schnell zu den strategischen Themen des Unternehmens. Und zu den Pain-Points, die mit diesen Themen direkt korrelieren und weshalb ich eingeladen wurde.
Diese Pain-Points kenne ich gut und auch in diesem Termin tauchen die gleichen Schmerzen und Aussagen auf:
Schwelbrände im Mittelstand
„Es gibt hier bei uns nicht wirklich einheitliche Prozesse. Um zu kommunizieren benötigen wir viel zu viel Handarbeit und wir sind gefühlt nie schnell genug. Wir brauchen ein PIM-System.“
„Wir hatten mal einen wohl definierten Publikations-Prozess – aber im Laufe der Zeit haben sich in den Fachabteilungen eigene Prozesse eingeschlichen. Wie das jetzt alles im Detail funktioniert, kann ich Ihnen eigentlich gar nicht so genau sagen.“
„Ich wundere mich selbst darüber, wie wir es alle in der Marketingabteilung jedes Jahr schaffen, die vielen Informationen in unsere bestehenden Kanäle zu überführen. Daran arbeiten wir das ganze Jahr. Aber am Ende kriegen wir es doch immer wieder irgendwie hin.“
„Wir liefern in 28 Länder. Unsere Veröffentlichung geschieht in zwei Mastersprachen, 31 Ländersprachen und 25 Sprachvarianten. Die unterschiedlichen Ausprägungen und Preise der Produkte für Länder und Märkte, Zielgruppen, Kunden sowie Online-Marktplätze müssen ebenfalls verwaltet und entsprechend publiziert werden. Nicht zu vergessen: Unsere Sonderanfertigungen sind zusätzliche Komplikationen, da diese Informationen zwar verwaltet werden müssen, aber nicht in öffentlichen Publikationen und Verkaufskanälen auftauchen dürfen.“
„Wir haben unsere Produktinformationen in unserem ERP. Hier existierten ca. 8000 Tausend Stock-Keeping-Units, aus denen sich ca. 52.000 Produkte und Varianten, Sonderzubehör- und Ersatzteile ergeben. Zusätzlich gibt es Produkt-Bundles sowie vertriebs- und marketingrelevante Ersatzteillisten. Fertigungslisten und Konstruktionsstücklisten werden intern werksspezifisch für die Produktion benötigt. Jedes Jahr kommen ca. 100 Produkte hinzu, während andere auslaufen. Der Nachhaltigkeits-Anspruch von uns verlangt, dass über eine Nachkaufgarantie Ersatzteile bis zu 15 Jahre lang einzeln nachbestellt werden können. Leider sind spezielle Werte, neue Attribute und Angaben für sämtliche Publikationsstrukturen nicht direkt an den Produktinformationen im ERP zentral aufgehängt. Das wäre so in Gänze auch gar nicht machbar.“
„Weil nicht alle Marketing-Informationen im ERP gepflegt werden können, pflegen wir in den einzelnen Redaktionssystemen für Print, Web und Marktplätze separat und kanalabhängig nochmal nach. Allerdings ergeben sich so für annähernd jeden Publikationskanal eigenständige Pflegeebenen mit jeweils separat gepflegten Informationen. Das kann so nicht weitergehen. Das fliegt uns irgendwann exponentiell um die Ohren.“
Hut ab vor diesen Leistungen und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen
Hinter solchen Signal-Aussagen stecken für viele Beteiligte jeden Tag ungeheure Anstrengungen und gewaltige, logistische Leistungen, die stetig weiter anwachsen, je länger man dem allgemeinen Druck standhält und keine veränderten Perspektiven einnimmt.
Die Geschwindigkeiten und die Ausmaße, wie dieser Druck entsteht, sind in den diversen Branchen verschieden schnell und heftig; jedoch ist dieser Wandel omnipräsent und unabhängig davon, ob man Händler, Hersteller, Zwischenhändler im B2B oder B2C ist oder gleich mehrere Positionen in der Wertschöpfungskette einnimmt.
Die in Unternehmen verwendeten Systemlandschaften, Publikations-Prozesse, Terrabytes an Datenvolumen und Kommunikations-Anforderungen sind typischerweise historisch gewachsen. Kommunikations-Kanal um Kommunikations-Kanal kam in der Vergangenheit hinzu, Märkte änderten sich oder mussten neu erobert werden. Zudem wechselten Anforderungen und Bedürfnisse, auf die man sich neu einstellen musste, während die Zeit schon immer ein begrenzender Faktor war.
So entstanden – in detaillierten und aufwendigen Projekten – monolithische Systemarchitekturen mit Datenbanken und Prozessen, die zwar für damalige Anforderungen mehr oder weniger funktionierten – für heutige Anforderungen jedoch nicht skalierbar sind.
Trotz vieler Systeme im Einsatz gibt es oft keinen zentral nutzbaren Datenpool und verbundene End2End Prozesse, um die Vielzahl an Informationen direkt zu Beginn eines Publikationsworkflows nachhaltig zu verwalten. Teilweise wurde Altdaten-Ballast mitgeschleppt und analoges digitalisiert, ohne sich über den Sinn und Zweck und über alternative Prozesse auf Basis der neu eingeführten Technologien Gedanken zu machen.
Verstrickt statt vernetzt
Das Ergebnis für die Unternehmen heute: Man ist verstrickt anstatt vernetzt und durch systemische und prozessuale Abhängigkeiten ist die Angst groß, dass – an einer Stelle falsch angefasst – alles umfallen könnte, wie eine Kette aus Dominosteinen.
Eine Schuld kann niemandem zugesprochen werden und da es alle Unternehmen mehr oder weniger betrifft, muss sich hier niemand für irgendetwas entschuldigen.
Denn mit agilen Projekt-Methoden, Cloudtechnologien, neuen Datenbanktechnologien, Microservices, SaaS, FaaS und Serverless Computing stehen heute moderne Werkzeuge und Technologien zur Verfügung, die in dieser Form damals auch nicht existierten.
Und vor allem: Wie hätte man auch diese Zukunft und alle daraus resultierenden Kausalketten im Vorfeld voraussagen können?
Communicate – Process first – Do one thing, and do it well
Zukunft ist, wie man im Nachhinein sieht, nicht unbedingt eine Verbesserung der Gegenwart. Sie lässt sich nicht vermessen und vorhersagen, sondern bestenfalls erahnen. Dazu muss man den ersten Schritt für einen Perspektivenwechsel in Richtung Zukunft aus dem Nebel gehen und nicht im Nebel stochern, was alles sein könnte, wenn man den ersten Schritt gehen würde.
Es braucht Intuition, Mut, Pioniergeist, Vertrauensvorschuss und die Bereitschaft Fehler zu machen und aus Ihnen zu lernen.
Eine gute Zukunft ist nicht plötzlich da. Sie muss jeweils im Hier und Jetzt gepflegt werden.
Es ist ein Rückschritt, PIM-Projekte als reines Investitionsprojekt anzugehen. Denn Product Information Management ist keine Software-Pille, die man einnimmt und alles wird gut, sondern eine tiefgreifende Strategie, die stetig Raum für Anpassungen und Verbesserungen beinhalten muss.
- Communicate:
Viele Unternehmen sind mit ersten PIM-Projekten gescheitert. Unter anderem, weil zu viel investiert und zu wenig mit den richtigen Personen intern und extern kommuniziert wurde. Die richtigen Leute sind die Menschen, die in den Prozessen der Gegenwart involviert sind und deren Erfahrungen immens wichtig sind für die Prozesse und Schnittstellen der Zukunft.
„Organisationen, die Systeme entwerfen, […] sind gezwungen, Entwürfe zu erstellen, die die Kommunikationsstrukturen dieser Organisationen abbilden“, sagte bereits 1968 der Informatiker Melvin E. Conway und meint damit, dass für eine funktionierende Definition von Schnittstellen zwischen Software, zwischenmenschliche Kommunikation nötig ist. Daher haben bestehende Kommunikations-Strukturen der Organisation großen Einfluss auf die Funktion der späteren Schnittstellen und ob Prozesse wirklich funktionieren.
Und selbstverständlich gibt es Unterschiede im Entwicklungs-Output, wenn beispielsweise ein Entwicklungsteam – nach Programmiersprachenkenntnissen zusammengestellt – an einem Feature arbeiten. Teams, die Feature Driven zusammengestellt wurden, werden nutzenbringendere Ergebnisse bringen.
Für eine individuelle PIM-Strategie gibt keine Best-Cases und Vorlagen, die für „den ähnlichen Händler“ oder „für eine gesamte Branche“ gelten und schlicht kopiert werden können.
Conways Gesetz besagt, dass trotz klarer Zielvorstellung, genügend Personal, Rohstoffen, Zeit, sowie ausgereifter Technologie, Projekte an Kommunikationsproblemen und den daraus resultierenden Organisationsveränderungen scheitern werden.
- Process first:
Wenn es um bestehende und neue Prozesse geht, sollten Stakeholder reduziert werden. Denn Stakeholder fühlen sich berufen neue Prozesse zu bestimmen. Und das obwohl die aktuell verwendeten Prozesse und damit zusammenhängende Details, die verbessert werden könnten – egal ob analog oder digital – für diese Personengruppe im Verborgenen liegen, weil es nicht ihre tägliche Kerntätigkeit ist.
Deshalb gilt: Übersicht für alle Stakeholder über alles = „JA“. Alle Stakeholder definieren und planen alles = „NEIN“.
Die eigentlichen End User sind die relevante Personengruppe für die Gestaltung von neuen Prozessen und entscheidend für ein erfolgreiches Change-Management. Ihre Unterstützung bei der Einführung, der späteren Nutzung und der Weiterentwicklung der neuen Prozesse ist der entscheidende Erfolgsfaktor.
- Do one thing, and do it well
Ein Aspekt für einen neuen End2End Publishing-Prozess, der häufig übersehen wird, ist zum Beispiel der Rückkanal für das Tracking und der Nutzung dieser Informationsangebote – und nicht nur das optimierte Kreieren und Publizieren.
Direktes Kundenfeedback und Bewertungen sind beispielsweise für die Produktentwicklung sehr hilfreich. Wenn Prozesse eingeführt werden, sollten diese also nicht nur passen, sondern auch Mehrwerte liefern. Es ist also in diesem Beispiel sinnvoll, z.B. auch SEO- und Performance-Marketing Experten in Publikationsprozesse einzubinden.
Deshalb gilt: Gute Prozesse liefern nicht nur gute Informationen von A nach B, sondern bereichern diese und bieten somit Ansatzpunkte zur stetigen Verbesserung. Und das am besten fachbereichsübergreifend für alle transparent und bestmöglich automatisiert.
Ein guter End2End Prozess bedeutet also, dass der Prozess bis zum Ende gedacht wird, alle Anwenderperspektiven berücksichtigt und bislang verborgene Mehrwerte gleichermaßen entdeckt und gehoben werden.
So werden Prozesse nicht nur sinnvoll, sondern zusätzlich sinnstiftend. Well done.
In meinem ersten Beratungstermin war die gemeinsame Erkenntnis über bestehende Abläufe im gesamten Unternehmen (und nicht lediglich über den Prozessabschnitt, der die eigene Abteilung und Arbeitsrealität berührt) ein erstes wichtiges Ergebnis für alle.
Jedoch kann man nicht alle Prozesse gleichzeitig in Angriff nehmen. Wir haben uns gemeinsam darauf geeinigt, dass ein Aspekt einer Abteilung aus der dargelegten Gesamt-Vision mit wenig Aufwand schnell innerhalb eines Proof of Concept umgesetzt werden kann, gleichzeitig basislegend für weitere Iterationen ist und direkt einen spürbaren Return on Investment bieten wird. Dieser Proof dient in Folge als Blueprint, Motivation und Erfahrungsquelle für weitere Iterationen. Damit erreichen Sie Commitment, Nutzen-Verständnis, kleine Lernkurven und Involvement im gesamten Unternehmen, ohne zu überfordern. Durch dieses Gespräch mit klar definierten Zielen und den nächsten Schritten, die alle verstehen und auf die sich alle geeinigt haben, ist das Change-Management bereits im vollen Gang.
Well done.
Fazit:
Schnell und agil, anstatt unbeweglich und fragil: Große Probleme lassen sich durch Erfahrung, Kommunikation und Reduktion auf das Wesentliche vereinfachen. Leicht zu erreichende Verbesserungen mit hohem Business Value werden identifiziert, fokussiert und können in wenigen überschaubaren Entwicklungs-Sprints zu einem Proof of Concept verdichtet werden. Dieser Proof of Concept ermöglicht die direkte Erfahrung mit der möglichen Zukunft und man kann diese auch noch früh für sich vormodellieren.
Neue Standpunkte und Perspektiven werden erreicht und die Vision für die Zukunft erscheint nicht mehr unmöglich.
Lesen Sie hier einen weiteren Gastbeitrag von Michael Ochtrop.
Über den Autor
Michael Ochtrop war 2003 Mitbegründer und Gesellschafter der communicode GmbH & Co. KG und ist heute Anteilseigner der communicode AG. Seine Schwerpunkte sind Product Information Management und Media Asset Management. Er unterstützt bei System-Evaluierungen, Anforderungsmanagement (Scoping) sowie unternehmensspezifischen Lösungen im Bereich des Informationsmanagements und erarbeitet mit den Unternehmen Konzepte zur agilen Einführung von Geschäftsprozessen. Auf Basis seiner Erfahrung ist er gefragter Ansprechpartner für Strategieentwicklung, Change Management, Prozessoptimierung und Digitalisierung in Unternehmen verschiedenster Branchen.
Bildquellen
- mark-516279_1920: geralt / pixabay
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