Traditionelle Handelsstrukturen auf dem Prüfstand – Informationsmanagement für mehr Service im Handel


Der traditionelle Handel mit seinen Handelsstrukturen und Prozessen, sieht sich hohem Innovationsdruck ausgesetzt, um mit seinen bislang erfolgreichen Kernkompetenzen in Zeiten des digitalen Wandels nachhaltig im Wettbewerb zu punkten.

Mit stetig neuen, bequemen und digitalen Möglichkeiten und Angeboten ausgestattet, verändern sich Kaufverhalten, Kundenanforderungen und Beschaffungsmentalitäten von Käufern – ganz gleich, ob es sich um den Endkunden oder den Geschäftskunden handelt. Das strapaziert die etablierten und traditionellen Handels- und Vertriebsprozesse auf allen Ebenen. Die Auswirkungen sind im Versandhandel, Großhandel, stationären Handel oder Produktionszwischenhandel nicht nur zu spüren, sondern erzeugen vielschichtigen Handlungsdruck.

Der Handel muss sich neu erfinden. Ein vorhandener B2B- oder B2C-Online-Shop, das Warenwirtschaftssystem oder das System zur Kundenverwaltung allein stellen noch keinen hohen Digitalisierungsgrad dar und reine Preisaggressivität funktioniert im Internet-Zeitalter längst nicht mehr als einziger Wettbewerbsfaktor. Dieser Meinung ist auch der ECC Köln in seinem neuen B2B-Konjunkturindex, der hier angefordert werden kann: http://www.b2b-ecommerce-index.de/

Crosschannel-Ideen beleben den Handel

Was im Wesentlichen für den Händler zur Digitalisierung beiträgt, sind neue Ideen für vernetzte Crosschannel-Angebote und überzeugende, digitale Serviceleistungen für Abnehmer und für Lieferanten.

Dazu gibt es viele positive Beispiele:

  • Click and Collect: Nicht nur bei Cyberport kann der Kunde mittlerweile online bestellen und in einer Filial-Niederlassung abholen und dort auch direkt umtauschen.
  • Digitale Verlängerung der Verkaufsregale: Bei der amerikanischem Kaufhauskette Macy´s können Warengruppen, die viel Ausstellungsplatz benötigen, virtuell präsentiert werden. Ein Mitarbeiter kann per Tablet die Produktvarianten zeigen und auf Farb- und Bezugsvarianten direkt eingehen, ohne dass alle Produktvarianten vorgehalten werden müssen.
  • Digitale Produktinformationen: Verbraucher könnten sich im Ladenlokal über Barcodes Zusatzinformationen zu den Waren selbst am eigenen Handy ansehen und speichern. Das ist z. B. sinnvoll für erklärungsbedürftige Produkte. Es könnten passende Tutorials und Nutzungstipps des Produktes angezeigt werden. Bei Lebensmitteln und Kosmetika könnten Inhaltsstoffe, Herkunftsinformationen oder Allergene kommuniziert werden. Andersherum könnte der Kunde sich auch eine Einkaufsliste von Produkten anzeigen lassen, die bestimme Allergene zum Beispiel nicht enthalten.
  • Karstadt testet im Düsseldorfer Flagship-Store die vernetzte Umkleidekabine und Spiegel-Touchscreens.
  • Saturn bietet in Hamburg den mobilen Self-Check-Out für ein Bezahlen ohne Kassen.
  • Zalando stärkt stationäre Händler ab 2019 mit »connected retail« und ermöglicht damit unter anderem »Click & Collect« oder »Return to Store«.
  • In der Mailänder Filiale von Zara erkennen interaktive Spiegel die anprobierten Produkte und präsentieren passende Accessoires und Kleidungsstücke.
  • Produktkonfiguratoren können Bestellprozesse im B2B vereinfachen.
  • Fieldforce-Apps mit allen relevanten Kunden- und Produktdaten unterstützen Handelsvertreter im Außendienst.
  • 3D Scanner, die im Handel Fußlänge, Fußbreite, Risthöhe und Wadenumfang eines Kunden vermessen, um den passenden Skischuh zu finden. Gleichzeitig können die Daten als »digitaler Leisten« dienen, um einen passenden Innenschuh beim Hersteller anfertigen zu lassen.
  • Augmented Reality und Mixed Reality Technologien bieten neue Shopping-Erlebnisse im stationären Handel.

Es muss nicht aufwendig sein, sinnvolle Services für Kunden anzubieten. Im »Knauber innovation Store« kann z. B. die Farbwirkung großflächig mit Hilfe eines Beamers beurteilt werden, bevor der Kunde 20 Eimer Farbe kauft und transportiert, die dann mit einer evtl. bösen Überraschung Zuhause an die Wand kommen.

Crosschannel für den Kunden geht nur gemeinsam

Negativbeispiele gibt es dann, wenn Handel, stationäres Ladengeschäft und Hersteller nicht zusammenarbeiten und nur parallel für den Kunden auf seiner Customer Journey existieren. Die Argumente, warum zuvor enthusiastisch eröffnete Filialen und breit angelegte Online-Händler-Shops schnell schließen, sind häufig die gleichen. Zum einen erkennt man »plötzlich«, dass Markt XYZ seit Jahren geprägt ist von hohem Wettbewerbsdruck und gesunkenen Margen und selbstverständlich sind auch neuerdings die eigenen B2C‑Aktivitäten der Hersteller der letzte Sargnagel. (Siehe: https://neuhandeln.de/naechste-shop-schliessung-21sportsgroup-bereinigt-portfolio-erneut/ )

Die wachsenden B2C-Online-Aktivitäten der Hersteller sind hingegen dadurch zu erklären, dass Hersteller im Gegensatz zum Handel die wenigsten Endkundeninformationen besitzen und sich Unternehmensstrategien zusammen mit dem traditionellen Handel aus diversen Gründen nur sehr träge umsetzen lassen. Dies wird mittlerweile als wachsender Nachteil empfunden. Der Hersteller möchte näher zum Kunden. Was früher wegen fehlendem Know-how und Ressourcenmangel nicht eigenhändig umgesetzt wurde, wird daher nun selbst in die Hand genommen.

Arbeiten hingegen bei der Umsetzung Hersteller, Handel und Filialen zusammen, ergibt dies eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten:

  • Der Kunde profitiert von sinnvollen und nützlichen kanalübergreifenden Zusatzdiensten.
  • Der Händler stärkt seine eigene Marke und baut seine Beratungskompetenz und seine Serviceangebote zur Kundenbindung aus.
  • Der Hersteller stärkt vertriebskanalübergreifend seine Markenbekanntheit durch sinnvolle Dienstleistungs- oder Produkt-Mehrwerte.

Und als vertrauenswürdige, innovative Marke wahrgenommen zu werden, spielt aktuell nicht nur beim häufig erwähnten Angstgegner Amazon oder Zalando eine immer größere Rolle.

Digitale Ideen für den traditionellen Handel

Für den stationären Handel bietet sich die Umsetzung von Serviceleistungen an, welche die On- und Offline-Erfahrung aus der digitalen und analogen Welt zusammenführen, um für den Kunden alle Vorgänge, die mit seinem Kauf zusammenhängen zu vereinfachen und neu erlebbar machen.

Die Bandbreite im stationären Handel reicht von digitaler Beratung und virtuell inszenierten Produktinformationen über kanal- und ladenlokal-unabhängige Serviceleistungen und Retourenabwicklungen, Abholungen und Lieferungen nach Kundenwunsch, bis hin zum digitalen In-Store-Point-of-Sale mit angebundenem Online-Shop.

Konzepte aus dem stationären B2C-Handel lassen sich auch im B2B-Handel anwenden, um die Beratungs- und Servicequalität durch digitale Mehrwerte zu steigern. Und für den Berater und Handelsvertreter im Außendienst bieten sich sogenannte Fieldforce-Apps als digitale Beratungshilfe mit umfassend verfügbaren Kunden- und Vertragsinformationen an.

Daten und Prozesse sind die Grundlage für Ideenfindung und Umsetzung beim Crosschannel

Was kann für den Kunden oder auch für den Lieferanten verbessert werden? Was funktioniert in welcher Branche bei welchem Produkt und bietet wirkliche Mehrwerte für Abnehmer und Lieferant? Ideen und Potentiale dazu stecken in den Daten, die unternehmensweit konsolidiert vorhanden sein müssen. Und darin liegt bereits eines der größten Hemmnisse. Historische Entwicklungen in der Vergangenheit, die Prozess- und Informationssilos verursacht hatten, rächen sich aktuell auf allen Ebenen in der Vertriebskette. Für den Hersteller können dies beispielsweise fehlende Endkundendaten sein, da der Online-Vertrieb bislang nur vom Handel übernommen wurde. Oder Produktdaten können seitens des Herstellers oder Lieferanten nicht reibungslos und vollständig zur Verfügung gestellt werden, um ausreichende Produktinformationen für angeschlossene Vertriebspartner, Händler und deren Kunden bereitzustellen – von kanal- oder marktspezifisch zusammengestellten Informationen mal ganz zu schweigen.

Insbesondere beim Produktionszwischenhandel sind vollständige Produktbeschreibungen und ausführliche Spezifikationen jedoch wettbewerbsentscheidend – erst recht, wenn es sich um Spezialanfertigungen und konfigurierbare Produkte handelt. Denn der Händler kann nur mit richtigen und aktuellen Informationen seine Beratungskompetenz für den anspruchsvollen Abnehmer voll ausspielen. Aber wie fängt man nun an?

Datentransparenz und Datengrundlagen schaffen – ein Anwendungsbeispiel

Oft sind relevante Informationen bereits vorhanden, jedoch hapert es mit der Verfügbarkeit und in Folge auch an der sinnvollen Anwendung von relevanten Informationen für Marketing und Vertrieb.

In einem aktuellen Anwendungsbeispiel mit einem Dienstleister aus dem Bereich der Energieversorgung wird dies deutlich. Zwar liegen umfangreiche Kunden-, Netz- und Zulieferinformationen beim Versorger vor, allerdings werden die Informationen in verteilten eigenen Systemen und Fremdsystemen verwaltet. Das Unternehmen bietet neben Strom, Gas, Wasser, Wärme auch Telefon-, Internet-, Glasfaser- und TV-Anschlüsse für die Rundumversorgung an. Lösungen zur Elektromobilität können beim Energieversorger ebenso genutzt werden, wie Beratungsangebote und Dienstleistungen rund um Photovoltaikanlagen oder Energieberatung für Eigenheime und Unternehmen. Kundenkarten und kombinierte Preisvorteile für Kunden des Energieversorgers runden das Angebot ab. Die Daten-Komplexität und auch die Ziele des Unternehmens sind dabei durchaus mit denen eines traditionellen Händlers im B2B/B2C vergleichbar.

Eine Gesamtsicht auf sämtliche relevanten Kundendaten, all seine aktiven Produkte, Laufzeiten, Verträge und Anschlussdaten war für die Abteilungen Marketing und Vertrieb allerdings sehr mühsam und bedeutete Recherchen in vielen unterschiedlichen Systemen. Der Wunsch nach Kunden-Dimensionen in einem System, wo Daten in Gänze eingesehen werden können, war entsprechend groß. Gleichzeitig galt es aber, die Trennung der Netzbetriebsdaten und Vertriebsdaten (das sog. Unbundling) sicherzustellen, da das Energiewirtschaftsgesetz Maßnahmen zur Entflechtung vorsieht, um einen neutralen Netzbetrieb zu gewährleisten. So müssen beispielsweise die Kundendaten von den Mitnutzern der Stromleitung in der Abteilung des Netzbetriebes bleiben. Sie dürfen nicht mit den Daten der belieferten Privathaushalte vermischt werden.

Um eine compliance-konforme Gesamtsicht für das Unternehmen zu erreichen, wurde mit einem Informationsmanagement-System als zentrale Datenkonsolidierungsplattform gearbeitet, an das die relevanten internen und externen Informationsquellen angebunden wurden.

Aus Insights relevante Mehrwerte für Partner und Kunden ableiten

Die gemeinsame Informations-Inventur legte innerhalb dieses Projektes den Ist-Zustand der aktuellen Informationen im Unternehmen und deren Verwendbarkeit frei. Vielfach entsteht an dieser Stelle zum ersten Mal ein umfassender Blick für alle Beteiligten auf die bestehenden Daten und Prozesse im eigenen Unternehmen.

Die gemeinsame, abteilungsübergreifende Sicht auf die Daten ermöglicht es nun, neue kundenzentrierte Anwendungszwecke und Mehrwerte aufzuspüren. Anforderungen und Herausforderungen können auf Basis reeller Informationen gemeinsam in Workshops besser bewertet und Projekte in Folge agiler und zielführender umgesetzt werden.

Nach der ersten Datenmigration können die Ergebnisse bereits für personalisierte Cross-Selling-Marketingaktionen verwendet werden. Weiterführend wäre auch die Anreicherung der bestehenden Kundeninformationen innerhalb des bereits vorhandenen Kundenportals unkompliziert zu realisieren. Auch eine webbasierte Vertriebs-App für professionellere Kundengespräche bei der Vor-Ort-Beratung hat plötzlich viel weniger Herausforderungen als anfangs gedacht.

Prozesse überdenken – Mit Proof of Concept überzeugen

Genauso wie beim obigen Beispiel, können Erkenntnisse über Ist-Zustände auch über die Grenzen eines Unternehmens hinaus genutzt werden, um Datengrundlagen und Prozesse für mehr Kundenzentrierung bereits in der Wertschöpfungs- und Vertriebskette zu optimieren.

Hersteller wie Händler könnten z. B. gegenseitig die Prozesse zum Datenaustausch vereinfachen und gleichzeitig zu besseren Daten kommen, die umfangreicher genutzt werden können, um Produkte in den Filialen digitaler für den Endkunden zu inszenieren.
In Zusammenarbeit mit den Herstellern, modernisiert der Händler quasi gleichzeitig sein Image und seine Filialen.
Der Hersteller könnte wiederum von zusätzlichen Endkundeninformationen zur Produktverbesserung profitieren und seine Produkte im traditionellen Handel attraktiver und digitaler kommunizieren.

Eruieren Sie kreativ Use-Cases, die mit wenig Aufwand bereits einen großen Impact haben. Sprechen Sie als Händler und Hersteller mit angeschlossen Geschäftspartnern und bieten Sie Partnerprogramme zur schrittweisen Umsetzung an. Fangen Sie dabei klein und überschaubar mit einem Proof of Concept an. Gewinnen Sie einen interessierten Geschäftspartner als Mitstreiter für Ihre Pionierarbeit.

Schauen Sie dabei über den eigenen Tellerrand und optimieren Sie nicht nur für sich. Teilen Sie Ihre Erkenntnisse, Daten und Prozessideen.

Agiles Vorgehen – Informationsmanagement macht schrittweise aus traditionellen Kompetenzen digitale Kernkompetenzen

Wichtiger als ein »großer Wurf« ist es, einzelne, funktionierende End-to-End-Prozesse zu entwickeln, die auch auf dem Rückkanal für alle Beteiligten funktionieren. Diese dienen auch als Blueprint für die weitere Überzeugungsarbeit.

Um die eigene Transformation in rasch veränderlichen Zeiten zielführend zu realisieren, gilt es, Visionen zur Kundenbindung und Crosschannel-Angeboten in kleine, überschaubare Projekte mit schnellem Return on Invest zu zerteilen und in zielführenden Schritten zusammen mit den Partnern iterativ auszubauen. Eine agile Arbeitsweise hilft dabei, frühzeitig relevante Fragen zu stellen, die wichtigsten Anforderungen mit hohem Business-Value priorisiert auf den Tisch zu bringen und bei aufkommenden Schwierigkeiten rasch zu intervenieren.

Die Projektbeteiligten verlieren den Fokus nicht aus den Augen. Potentiale können sowohl für das eigene Unternehmen, als auch für Partner unternehmensübergreifend erschlossen werden und Gefahren werden minimiert.

Fazit

Ob stationärer Groß- und Einzel-Handel, Versandhandel, Produktionszwischenhandel oder Hersteller: Mit dem Ausbau der traditionellen Kompetenzen zu digitalen Kernkompetenzen werden Marken gestärkt für aktuelle und zukünftige Marktgegebenheiten.
Aufbruchsmentalität, Kreativität und mutige Pionierarbeit für neue Crosschannel-Serviceideen, für bessere Kundenbindung und eine moderne Marktansprache gehören dazu. Genau dies wird Unternehmen voneinander abheben und wachsen lassen.

Die Basis dafür sind verfügbare Daten und Prozesse, die über den eigenen Tellerrand hinausgedacht werden. Einzelne Einkaufs-, Service- und Dateninseln, auf die Kunden noch viel zu oft auf ihren Reisen treffen, sind dem Untergang geweiht – egal ob diese Online oder Offline sind.

Seamless-Commerce und Crosschannel dominieren die Zukunft des Handels für den Kunden. Genauso nahtlos, transparent und abgestimmt müssen auch Informationsmanagement und Prozesse innerhalb der Wertschöpfungskette funktionieren. Die Technologien und Applikationen müssen jedoch intuitiv nutzbar sein und einen wesentlichen Mehrwert gegenüber dem Status quo liefern.

Dies ist der erste Teil einer dreiteiligen Reihe zum Thema: »Informationsmanagement – Ideen für Handel und Hersteller«. In den nächsten beiden Teilen beleuchte ich einzelne Herausforderungen des Handels und der Hersteller aus dem Mittelstand- und Enterprise-Segment im Detail und zeige auf, wie mit intelligentem Informationsmanagement und Kreativität, smarte Lösungen und Anwendungen entstehen.

Zum Autor

Michael Ochtrop, Principal Consultant der communicode AG

Michael Ochtrop war 2003 Mitbegründer und Gesellschafter der communicode GmbH & Co. KG und ist heute Anteilseigner der communicode AG. Seine Schwerpunkte sind Product Information Management und Media Asset Management. Er unterstützt bei System-Evaluierungen, Anforderungsmanagement (Scoping) sowie unternehmensspezifischen Lösungen im Bereich des Informationsmanagements und erarbeitet mit den Unternehmen Konzepte zur agilen Einführung von Geschäftsprozessen. Auf Basis seiner Erfahrung ist er gefragter Ansprechpartner für Strategieentwicklung, Change Management, Prozessoptimierung und Digitalisierung in Unternehmen verschiedenster Branchen.

Bildquellen

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