Open Content und Open Standards


Wie und warum künftig Standards und Technologien kollaborativ in Wikis entwickelt werden.

Dass freies Wissen im Web erarbeitet und publiziert wird, kennen wir von Wikipedia. Und dass man über das Internet auch offene Standards und neue Produkte herstellen kann, kennen wir auch schon. Die Open Source Software ist ein Beispiel und zuletzt wurde sogar ein Auto mit dem Open-Source-Prinzip entwickelt. Open Content und Open Standard sind die neuen Schlagworte, wenn es darum geht, die Open-Source-Prinzipien auf die Produktion von Inhalten zu übertragen.

Nun beginnen aber auch klassische Unternehmen in öffentlichen Wikis ihr Wissen zu teilen. Das ist insofern eine bemerkenswerte Entwicklung, weil es sich dabei oft um internes Know-how handelt, das sie nun auf derselben Plattform wie ihre unmittelbaren Wettbewerber publizieren. Nicht selten arbeiten sie dabei auch noch zusammen, erarbeiten die Inhalte gemeinsam und stellen das Wissen auch noch unter freien Lizenzen, so dass es verändert und verteilt werden kann.

Warum tun sie das? Was versprechen sich diese Unternehmen davon, Standards und Technologien kollaborativ in öffentlichen Wikis zu erarbeiten? Es zeigt sich schnell, dass die Unternehmen von ihrer neuen Offenheit profitieren.

Drei aktuelle Wiki-Projekte

Ich greife zunächst drei Beispiele aus der IT heraus.

Beispiel 1: WebPlatform setzt Standards in der Webtechnologie

Webplatform

Die IT-Industrie und hier vor allem Marktführer wie Adobe Systems, Apple, Facebook, Google, HP, Microsoft, Mozilla, Nokia oder Opera sind Mitglied im World Wide Web Consortium (W3C). Das W3C ist die wichtigste internationale Organisation zur Standardisierung des World Wide Webs. Das W3C hat schon lange eine wichtige Vermittlungsrolle bei der Entwicklung der Webtechnologien.

Im Jahr 2012 startete das W3C mit der WebPlatform ein neues und ambitioniertes Wiki-Projekt. Das erklärte Ziel der Initiatoren ist dabei die Schaffung einer weltweit zentralen Ressource für Webentwickler. Dort können alle Standards nachgeschlagen werden, gleichzeitig werden auf der WebPlatform die Standards für zentrale Technologien wie HTML5, JavaScript, CSS oder DOM öffentlich erweitert und verbessert. Das W3C ist zwar Trägerin der WebPlatform, das Projekt wird aber maßgeblich von großen IT-Unternehmen unterstützt und vor allem finanziert.

Beispiel 2: Das Open Services for Lifecycle Collaboration vereinheitlicht Geschäftsprozesse

Open Services

Vergleichbar zur WebPlatform ist das Projekt „Open Services“ der Open Services for Lifecycle Collaboration (OSCL). Auch hier werden vor allem über ein Wiki kollaborativ und über Unternehmensgrenzen hinweg Spezifikationen entwickelt. Und auch hier geht es um Software, allerdings stehen beim OSCL vor allem die Prozesse („Services“) im Mittelpunkt, die von einer Software abgedeckt werden sollen. Die OSCL Initiative ist Teil der größeren Open Standard Organisation OASIS und besteht aus 17 Arbeitsgruppen zu Themen wie Embedding, Changemanagement oder Qualitätsmanagement.

Das ambitionierte Ziel der OSCL ist kurz gesagt das Management von Anwendungen und Produkten so zu standardisieren, dass dafür geeignete Softwareprodukte hergestellt werden können. Die dazugehörigen Fachbegriffe sind ALM (Application Lifecycle Management) und PLM (Product Lifecycle Management). Auch hier ist es wenig überraschend, dass vor allem große Unternehmen ein lebendiges Interesse entwickeln: Konzerne wie Accenture, Tieto, Eclipse, IBM, Oracle, Siemens, Northop Grumman, Citigroup oder Shell unterstützen die Initiative inhaltlich und finanziell.

Beispiel 3: BlueForge – Freies Wissen über Softwareprodukte

BlueForge

„Eine Art Lonely-Planet-Führer für Software“ zu schaffen ist die Grundidee der Wiki-Plattform BlueForge. Im Wesentlichen wird dort kollaborativ Wissen über Software im professionellen Einsatz gesammelt. Träger der Plattform ist diesmal kein Konsortium, sondern ein Einzelunternehmen, die Hallo Welt! – Publishing, das die Plattform redaktionell begleitet.

Anders als in der Wikipedia können hier Unternehmen, aber auch Anwender und Dienstleister Erstinformationen, Hintergrundwissen, Dienstleister, Videos und Erfahrungen zusammentragen. In Kürze lassen sich dort auch Feature-Vergleiche kollaborativ erstellen. Die Featurelisten können frei bearbeitet, ergänzt und aktualisiert werden. Daraus lassen sich dynamisch und individuell aktuelle Vergleichslisten zusammenstellen.  Für Hersteller, Dienstleister reduziert sich so beispielsweise der Aufwand, für IT-Entscheider  Kriterienkataloge zusammenzustellen und aktuell zu halten.

Gründe für die Zusammenarbeit

Nehmen wir nur diese drei Beispiele, sehen wir, dass die kollaborativen Open Content- und Open Standard-Websites den beteiligten Unternehmen viele Vorteile bieten:

  • Kostensenkung in der Entwicklung: So müssen Managementprozesse nicht immer wieder und von jedem Unternehmen neu erfunden werden, sondern stehen wie Kochrezepte frei zur Verfügung. Die eigene Software wird mit anderer Software kompatibel (z. B. über definierte Schnittstellen und Standards) oder erhält vergleichbare Merkmale. Oft folgt die Zusammenarbeit auch immer einem Zwang. Selbst große Konzerne haben oft nicht die Macht, global Standardisierungen und Marktentwicklungen durchzusetzen. So einigt man sich auf gemeinsame Entwicklungslinien, Mindest- und Marktstandards und erhält so eine größere Investitionssicherheit. Und nicht zuletzt soll die Beteiligung einer unabhängigen Community einen Beitrag zur Fehlerreduktion liefern.
  • Aktuelle und kostengünstigere Dokumentation: Viele Dokumentationen von Standards und Spezifikationen werden nicht mehr von jedem Unternehmen separat vorgehalten und gepflegt, sondern veröffentlicht, so dass Nutzer wie Mitarbeiter darauf zugreifen können. Viele Aufwände entfallen und die Dokumentation ist immer aktuell.
  • Schnelles Arbeiten durch Unabhängigkeit von externen Redaktionen: Durch die offene Struktur, können Änderungen sofort publiziert werden. In einzelnen Fällen gibt es einen kleinen Freigabeprozess, aber man ist nicht mehr von einer Redaktion abhängig, um Inhalte auf den aktuellen Stand bringen.
  • Objektivität: Das offene Wiki-Prinzip sorgt in der Tendenz auch zu mehr Objektivität, weil Beiträge von jedem geändert werden können. Lediglich eine kleine Redaktion sorgt für die Einhaltung der allgemeinen Qualitätsstandards.
  • Schutz durch freie Lizenzen und offene Standards: Dass die Inhalte unter freien Lizenzen stehen und auch zu kommerziellen Zwecken verwendet werden können, entpuppt sich schnell als Vorteil, weil sich so die Inhalte auch wirklich verbreiten und sich nicht von einem Einzelnen angeeignet werden können.
  • Größere Sichtbarkeit und eigener Raum: Durch die Kooperation erhöht sich die Sichtbarkeit nicht zuletzt von kleinen oder hochspezialisierten Organisationen. Sie profitieren von einem öffentlichen Ort, an dem sie sich auch präsentieren können. Deswegen ist es häufig auch wichtig, dass die Partner dort einen eigenen Bereich haben, den sie gestalten können.

 

Herausforderungen und Ausblick

Es wäre zu früh, von einem Trend zu sprechen, aber blickt man über die IT hinaus, findet man auch in anderen Bereichen ähnliche Projekte:

  • Das Genomic Standards Consortium sucht nach Methoden, um die Beschreibung von Genomen zu standardisieren und will den Austausch und die Integration Genomischer Daten voranbringen.
  • Im MedienWiki finden Schüler und Jobvermittler Einführungen und Hintergrundinformationen zu Berufsbildern und Ausbildungsmöglichkeiten in der Medienbranche. Unter redaktioneller Begleitung des Mediencampus e.V., eine von der bayerischen Staatsregierung initiierte Verbandsorganisation, erarbeiten und präsentieren die Akademien und Ausbildungseinrichtungen gemeinsam ihr Angebot und erreichen eine Öffentlichkeit, die sie einzeln nicht gewinnen könnten.
  • In einem Beta-Stadium ist derzeit noch das Jugendwiki. Dort wird eine Art Wikipedia für Jugendarbeit geschaffen. Organisation von Festen, Spiele, Beratungsstellen: die Themen sind unendlich. Die einzelnen Organisationen können dort auch zentral ihre Websites einrichten und erreichen so mit weniger Aufwand ein größeres Publikum. Vor allem aber profitieren sie von einem nachhaltigen Wissensaustausch, gerade in Organisationen mit einer hohen Fluktuation bei den Verantwortlichen.

Und man kann sich ganz viele weitere Plattformen vorstellen: Über erneuerbare Energien, den Betrieb von Gaststätten, Fitness und Gesundheit. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Blockaden treten an ganz anderen Stellen auf:

  • Die jeweilige Lösung muss für eine Community einen sichtlichen Mehrwert bieten. Das ist nur zum Teil eine technische Frage. Im Wesentlichen ist es jedoch eine inhaltliche. Von Menschen intellektuell gepflegt und nicht automatisiert zusammen gestellte Plattformen  machen den Wert freien Wissens aus.
  • Voraussetzung ist ein inhaltlich neutraler Betreiber mit dem entsprechenden Know-How. Das kann ein Konsortium sein oder ein Serviceanbieter.
  • Wiki-Plattformen brauchen eine solide Finanzierung. Häufig wird der finanzielle, technische und redaktionelle Aufwand unterschätzt. So benötigt man immer auch eine Redaktion (Wikigärtner), die Autoren bei ihrer Arbeit unterstützen. Die Plattformen bestehen zwar im Wesentlichen aus Wikis, die jedoch Anfangsinvestitionen und Betriebskosten erfordern.  Und meist sind weitere Anwendungen (Blog, Question&Answers, Foren) nötig oder besondere Zusatzfeatures müssen speziell programmiert werden.

Von daher ist es nicht überraschend, dass die bisherigen Projekte meist von großen Unternehmen angestoßen und betrieben werden, die den Betrieb finanziell leichter Schultern können.

Aber wenn die eben genannten drei Hindernisse  gemeistert sind, ist die Entwicklung kaum aufzuhalten und die Unternehmen werden Teile ihrer internen Dokumentation von „Closed“  auf „Open“ umstellen müssen. Und das wird auch viele klassische Angebote verändern: Betreiber von Messen und Fachkongressen, Verlage für Fachpublikationen und Beratungsunternehmen werden an Attraktivität verlieren und sich neu ausrichten müssen, wenn Unternehmen und Communities ihr Wissen gemeinsam öffentlich machen. Das mag im Moment noch Nischenthemen betreffen, doch das kann auch sehr schnell umschlagen, sobald es hier die ersten Erfolgsprojekte zu vermelden sind.

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